Rede von FAS Aktivist:innen bei der Verleihung des Aachener Friedenspreises

Am 1. September 2023 erhielt der Feministische Antikriegswiderstand (FAS Feministskoye antivoyennoye soprotivleniye, aka Feminist Anti-War Resistance) den Aachener Friedenspreis. Wir dokumentieren hier die Rede der anwesenden Aktivist:innen.

Wir danken dem Komitee des Aachener Friedenspreises für die Auszeichnung und dafür, dass sie ihre unschätzbare Unterstützung und Solidarität mit unseren Aktivist*innen zum Ausdruck gebracht haben.  Wir fühlen uns geehrt, diesen Preis gemeinsam mit dem Human Rights Defenders Fund (Israel) zu erhalten, der sich für die Rechte von Aktivist*innen einsetzt, die ständig von ihrer Regierung bedroht werden.

Heute zeigen wir unsere Gesichter nicht, denn hier zu sein ist nicht nur eine Ehre, sondern auch ein großes Privileg und eine große Verantwortung. Die meisten unserer Kolleg*innen befinden sich in Russland und können ihre Gesichter und Namen nicht zeigen, ohne Gefahr zu laufen, von russländischen Sicherheitskräften inhaftiert oder gefoltert zu werden.

Wir erhalten diese Auszeichnung, während der Krieg herrscht und unser Staat die Ukraine täglich bombardiert, während die ukrainische Armee und die Zivilbevölkerung heldenhaften Widerstand gegen diese unprovozierte Aggression leisten.

Wir erhalten diese Auszeichnung, während unsere Kolleg*innen ihren Kampf in Russland fortsetzen - unsere Bewegung existiert dank ihres Mutes und ihres Widerstandes gegen das derzeitige russländische Regime.

Der Feministische Widerstand gegen den Krieg entstand am 25. Februar 2022 als Reaktion auf die russländische vollständige Invasion in der Ukraine. Heute bestehen wir aus Dutzenden autonomen Gruppen in Russland und im Ausland. Zu uns gehören indigene Aktivist*innen, LGBTQ+-Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung, Menschen, die verschiedene Formen von Gewalt und Diskriminierung erlebt haben.

Wir bauen Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung mit anderen Antikriegsbewegungen und Aktivistengruppen auf, um mehr Menschen zu vereinen und zu politisieren, die bereit sind, gemeinsam ein Fundament für ein zukünftiges Russland zu schaffen, das frei von Diktatur, Unterdrückung, Militarismus, Imperialismus und Gewalt sein soll.

Der Krieg ist eine Fortsetzung der patriarchalischen Gewalt, eine ihrer extremen Ausprägungen, die stets die Schwachen und Ungeschützten parasitiert.

Der Krieg bedeutet, dass Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, dass Tausende von Ukrainer*innen vom russländischen Militär verwundet, getötet und gefoltert werden. Die nach Russland zwangsumgesiedelten Ukrainer*innen leben unter unmenschlichen Bedingungen, werden von niemandem außer ihren Angehörigen und Freiwilligen unterstützt und stehen unter ständigem Druck des russländischen Staates. Tausende von ukrainischen Zivilisten werden vom russländischen Militär gefangen gehalten, und über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Tausende von ukrainischen Kindern wurden von Russland entführt.

Wir wiederholen oft: "Der Krieg beginnt zu Hause". Häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen, Kinder und ältere Menschen - all diese Gewalt wird vom russländischen Staat seit Jahren gefördert und genährt. Längst hat sie unsere Häuser verlassen und die Staatsgrenzen überschritten. Alle Gewalt ist miteinander verbunden - und alle Gewalt muss aufhören. Der Krieg beginnt zu Hause, und er muss zu Hause enden. Denn er nährt sich von der Gewalt in unserer Gesellschaft. Feminismus ist daher ein untrennbarer Teil des Widerstands gegen den Krieg.

In Russland erleben Frauen bereits Gewalt durch Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren. Viele Gefangene, die wegen Gewaltverbrechen im Gefängnis saßen, wurden mobilisiert und sind bereits aus dem Krieg zurückgekehrt und laufen frei herum, nachdem sie für alle ihre Kriegsverbrechen begnadigt und mit Orden ausgezeichnet wurden. Russland erlässt zunehmend diskriminierende Gesetze, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Sie machen insbesondere das Leben von LGBTQ+-Personen in Russland unerträglich. Ein neues Gesetz verbietet geschlechtsangleichende Verfahren und Änderungen von Geschlechtskennzeichen in Dokumenten. Tausende von indigenen Völkern leben immer noch unter russländischer Besatzung, und diejenigen, die versuchen, für ihre Rechte zu kämpfen, sind systematischen Repressionen ausgesetzt.

Frieden ist nicht auf einen Waffenstillstand beschränkt. Wir wollen Frieden nicht nur ohne offene militärische Gewalt, sondern auch ohne strukturelle Gewalt. Ein solcher Frieden erfordert auch die volle Einbeziehung von Vertretern gefährdeter Gruppen in alle Vorverhandlungsprozesse und friedensschaffenden Maßnahmen. Ein solcher Frieden erfordert aktiven Kampf und lässt sich nicht durch einen bloßen Waffenstillstand täuschen.

Wir nennen uns "der Feministische Widerstand gegen den Krieg", sind uns aber bewusst, dass es bei "gegen den Krieg" nicht um einen privilegierten Pazifismus geht, sondern um die Anerkennung des Rechts der geschädigten Partei auf Selbstverteidigung. Die Ukrainerinnen können nicht "Nein zum Krieg" zu einem Krieg sagen, der bereits in ihre Heimat gekommen ist. Sie können nicht sagen: "Das ist nicht unser Krieg". Sie sind gezwungen, sich selbst, ihr Zuhause und ihre Lieben zu verteidigen - oft unter Einsatz ihres Lebens.

Wir wollen richtig verstanden werden: "gegen den Krieg" ist in unserem Fall nicht das müßige Warten auf einen abstrakten Frieden, der dann eintritt, wenn einer Seite die Ressourcen ausgehen. "Gegen den Krieg" ist ein täglicher Widerstand gegen den Aggressor und seine militärischen und imperialen Ambitionen. Ein Widerstand, an dem sich Tausende von Frauen, queeren Menschen, Aktivist*innen und Feminist*innen beteiligen. Und diese Ehre gehört ihnen.

Solange es Putin und dieses Regime in Russland gibt, wird es keinen Frieden geben. Es wird keinen Frieden geben, solange Menschen und Gebiete unter Besatzung stehen. Frieden kann nicht als Frieden bezeichnet werden, wenn politische Gefangene im Gefängnis sitzen und Aktivist*innen, die aus dem Land geflohen sind, nicht sicher nach Hause zurückkehren können. Ein solcher "Frieden" berücksichtigt nicht die Rechte der großen Zahl von Menschen, die in Gefahr leben.

Wir wollen Frieden, aber wir wollen einen gerechten Frieden, ohne besetzte Gebiete, ohne Sklaverei und Folter, ohne Gefängnisse und Ausbeutung, ohne Diktaturen, ohne das Verstummen der Gewalt in allen ihren Erscheinungsformen.

Wir möchten diesen Preis den Frauen und LGBTQ+-Personen aus Russland widmen, die

wegen ihrer Antikriegsaktionen, ihrer Identität und ihrer Ansichten strafrechtlich verfolgt werden und in Untersuchungsgefängnissen und Gefängnissen sitzen. Den Aktivisti*nnen, die von Durchsuchungen und Folter betroffen sind und Gewalt ausgesetzt sind, weil sie sich gegen den Krieg engagieren und den Ukrainer*innen helfen. Sie sind nicht nur Aktivist*innen unserer Bewegung - sie sind Tausende Geschichten des Widerstands gegen den russländischen Faschismus, Geschichten von Schulmädchen und Rentner*innen gleichermaßen.

Wir widmen diesen Preis Maria Ponomarenko, Sasha Skochilenko, Natalia Filonova, Tatiana Savinkina, Marina Novikova, Victoria Petrova, Masha Moskalyova und all jenen, die wir heute aus Sicherheitsgründen nicht nennen können.

Wir werden den Gegenwert dieses Preises in Geld an eine ukrainische feministische Organisation und eine russländische Initiative zur Unterstützung politischer Gefangener spenden. Wir bringen unsere Unterstützung und Solidarität mit den Ukrainer*innen in ihrem Kampf um Freiheit zum Ausdruck. Danke.

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