Position zur Aggression Russlands und zur Debatte um Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung
Wir dokumentieren ein aktuelles Positionspapier des Arbeitskreises Internationalismus der Rosa-Luxemburg-Initiative zur Debatte um Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, an welchem wir mitgearbeitet haben.
Position zur Aggression Russlands und zur Debatte um Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung
Jegliche
Diskussionen über den Kampf für den Frieden in Europa, die
Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, die Haltung der Linken zur Wiedereinführung
der Wehrpflicht usw. sind untrennbar mit unserer Einschätzung des andauernden
Krieges in der Ukraine als des zentralen destabilisierenden Faktors der
europäischen, wenn nicht sogar der weltweiten Politik verbunden.
1. Die Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine ist Ausdruck der imperialen, expansionistischen und revisionistischen Bestrebungen des Putin-Regimes, die sich auf den gesamten „postsowjetischen Raum“ erstrecken, sowie seiner innenpolitischen Ziele: Die Unterdrückung der russischen Zivilgesellschaft und die endgültige Festigung einer rechtsextremen Diktatur.
2. Das Putin-Regime ist weder „Opfer“ der NATO-Erweiterung noch eine Kraft, die sich westlicher Hegemonie entgegenstellt, sondern eine der treibenden Kräfte des „ultrarechten und reaktionären Internationalismus“, der weltweit einen Frontalangriff auf Demokratie, Sozialstaat und internationales Recht führt. Allerdings, es besteht kein Anspruch auf Einflusssphären für Großmächte, schon gar nicht gegen den Willen der betroffenen Länder.
3. Ziel der Aggression des Putin-Russlands ist nicht nur die Regierung von Wolodymyr Selenskyj, sondern die Ukraine als solche: ihre Sprache, Kultur, Identität, ihre demokratischen und revolutionären Traditionen und die ukrainische Zivilgesellschaft. So kritisch unsere Haltung gegenüber der ukrainischen Regierung auch sein mag, die Ukraine führt einen gerechten – defensiven, antikolonialen, befreienden – Krieg.
4. Daraus ergibt sich die Forderung nach umfassender Unterstützung der Ukraine (militärisch wie wirtschaftlich und politisch), vor allem durch Deutschland, das jahrzehntelang enorme wirtschaftliche Vorteile aus der Zusammenarbeit mit dem Putin-Regime gezogen hat. Die Unzulänglichkeit dieser Hilfe und die Verzögerung bei ihrer Bereitstellung haben zur Verlängerung des Krieges und zur aktuellen Krise der ukrainischen Verteidigung geführt.
5. Wir sind für eine diplomatische Lösung aller militärischen Konflikte. Ein „Deal“ zu Putins Bedingungen wäre jedoch kein Frieden, sondern der Auftakt zu einer neuen Phase der russischen Aggression und zu einer neuen Ära der gewaltsamen Neuordnung Europas und der Welt. Der Frieden, den wir anstreben, muss die Souveränität der Ukraine garantieren und die Möglichkeit eines erneuten Angriffs auf sie oder eine andere der ehemaligen Sowjetrepubliken oder Warschauer Pakt Staaten ausschließen.
Fragen der Wehrpflicht, der bewussten Kriegsdienstverweigerung, der Desertion usw. stellen sich für Linke in zwei Dimensionen: in einer moralischen und in einer politischen. – Ausgangspunkt der moralischen Position sind das Recht auf Leben und die Freiheit des Individuums – man kann nicht verlangen, dass jemand stirbt oder tötet im Namen von irgendetwas: Nation, Klasse, Gesellschaft, Menschheit usw. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen gerechten oder einen ungerechten Krieg handelt – jede*r hat das Recht, den Dienst in der Armee aus moralischen oder anderen Gründen, einschließlich des einfachen Wunsches zu leben, zu verweigern.
Die Achtung des Rechts auf Leben bedeutet die Anerkennung des Rechts auf Asyl für alle – einschließlich ukrainischer Wehrdienstverweigerer, bewusster Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Allerdings sollte die politische Position der Linken nicht so sehr aus moralischen oder menschenrechtlichen Imperativen erwachsen, sondern aus unserem Verständnis gesellschaftlicher Interessen.
Als Sozialist*innen streben wir eine Gesellschaft an, in welcher der Widerspruch zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit aufgehoben oder zumindest auf ein Minimum reduziert ist. Doch so weit sind wir noch nicht. Wir leben in einer gefährlichen Welt, in der das internationale Recht durch das „Recht des Stärkeren“ ersetzt wurde. In einer solchen Welt ist Krieg keine Anomalie, sondern eine logische Folge des gegenwärtigen faschistischen Moments.
Die Flucht aus dieser neuen Realität in eine Welt ewiger moralischer Wahrheiten ist leider keine Antwort. Zugleich ist selbstverständlich auch ein vollständiger Verzicht auf das moralische Element der Politik unmöglich. Sozialist*innen sind verpflichtet, Lösungen zu entwickeln, die auf einer konkreten, Kontext sensiblen Analyse der jeweiligen Situation beruhen.
So verdient beispielsweise die Verweigerung des Militärdienstes in Russland volle Solidarität – sowohl aus moralischer als auch aus politischer Perspektive. Ukrainische Wehrdienstverweigerer und Deserteure verdienen, wie bereits gesagt, Unterstützung. Eine Heroisierung ihres Handelns als „antikriegskämpferischer Widerstand“ wäre jedoch ein Fehler, da die ukrainische Gesellschaft sich gegen eine Invasion verteidigt, während Russland einen Angriffskrieg führt.
Was die Fragen nach der Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und insbesondere der möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland betrifft, möchten wir in erster Linie unsere Genoss*innen in Deutschland davor warnen, die Gefahr des Putinismus zu unterschätzen.
Putins offen deklarierte Zielsetzung ist die strategische Niederlage des „kollektiven Westens“ und die Wiedererrichtung des russischen Imperiums in den Grenzen des ehemaligen Ostblocks. Um dieses Ziel zu verfolgen, setzt der Kreml auf die Spaltung westeuropäischer Gesellschaften, deren Faschisierung und den Zerfall der EU. Und man muss zugeben: Diese Strategie funktioniert – sowohl dank der Aktivitäten der extremen Rechten, für die Putins Russland Inspiration und Sponsor zugleich ist, als auch wegen der Feigheit der traditionellen Eliten.
Die Befürchtungen, dass Putin nach einem möglichen Sieg über die Ukraine die Verteidigungsfähigkeit Europas – beispielsweise im Baltikum – auf die Probe stellen könnte, sind keineswegs unbegründet. Ob Moskau, das im Krieg gegen die Ukraine feststeckt, über die Ressourcen für eine solche Invasion verfügen würde, ist unklar. Doch allein die Existenz dieser Ambitionen erfordert, die Sicherheitsfragen ernst zu nehmen.
Die Gewohnheit, Russland als Gegengewicht zur westlichen Hegemonie zu betrachten, hindert einen Teil der westlichen Linken daran, die Realität einer „multipolaren Welt“ der Autokraten und ihrer Imperien zu akzeptieren – einer Welt, in der Europa und seine vorherrschende Macht, Deutschland, nicht nur keine dominierende Rolle spielen, sondern Gefahr laufen, selbst Ziel äußerer Einmischung seitens Russlands, Chinas oder der USA zu werden.
Das heutige Russland ist, wenn überhaupt, eine Alternative zur liberalen Demokratie und zur „sozialen Marktwirtschaft“ – aber eine durch und durch reaktionäre, faschistische Alternative.
Das Schlimmste, was die deutschen Linken heute tun könnten, wäre, sich einreden zu lassen, dass die liberaldemokratische Form des Kapitalismus, die heute in der Bundesrepublik Deutschland existiert, und die auf dieser Demokratie basierende Zivilgesellschaft verdienten keinen Schutz – weder politisch noch militärisch. Wir verteidigen die Demokratie als historische Errungenschaft. Dabei sind wir Teil dieser pluralistischen und diversen Gesellschaft. Wir haben aus den Fehlern und Irrwegen linker Bewegungen gelernt und arbeiten daran, eine zeitgemäße Vision eines demokratischen Sozialismus zu entwickeln.
Wir behaupten nicht, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder milliardenschwere Aufrüstungsprogramme alternativlos seien. Zweifellos müssen die Linken progressivere, demokratischere Modelle von Streitkräften vorschlagen und eine Verteidigungspolitik, die die Vergesellschaftung der Rüstungskonzerne vorsieht. Allerdings muss man anerkennen, dass „Wunschdenken“ und das Wiederholen pazifistischer Allgemeinplätze der Ernsthaftigkeit des Moments nicht gerecht werden. Die Linken sind verpflichtet, eine konkrete, konsequent antifaschistische Politik zu entwickeln – innenpolitisch und sozioökonomisch, ebenso wie außen- und sicherheitspolitisch.
Wenn eine antifaschistische Innenpolitik das Verbot der AfD als der größten Bedrohung für die deutsche Demokratie bedeutet, und eine antifaschistische Wirtschaftspolitik unter anderem präventive Maßnahmen gegen die Konzentration von Macht in den Händen der Oligarchie vorsieht, dann bedeutet eine antifaschistische Außenpolitik, sich jedem Imperialismus entgegenzustellen – sei er amerikanisch, chinesisch oder russisch.
Bremen, 8. Oktober
2025
Arbeitskreis Internationalismus
der Rosa-Luxemburg-Initiative
Dieses Papier
entstand in Diskussion mit einem Genossen der Initiative „Progressive
postsowjetische Linke“.
Quelle: https://www.rosa-luxemburg.com/news/2025/zur-debatte-um-wehrpflicht-und-kriegsdienstverweigerung/